Demokratie braucht Erinnerung

Every name counts

FÜR ARZU

Menschen erster und zweiter Klasse? Deutsche, die nicht „deutsch“ aussehen, deportieren? Demokratie ist doch nur eine chaotische Laberveranstaltung? Die extreme Rechte traut sich immer dreister aus den Löchern. Was kann man tun?

In diesem Beitrag kommen Verbrechen und Folter vor. Entscheiden Sie selbst, ob sie das lesen wollen.

Häftlingsnummer 94885. Name. Geburtsdatum. Geburtsort. Gestorben am. Gestorben fünf Tage nach der Einlieferung, kurz vor Kriegsende! Ein Sechzehnjähriger im KZ!

Ich schreibe Karteikarten von Gefangenen in Dachau ab. Jeder kann da mitmachen bei der Digitalisierung der Karteikarten aus den KZs. Online. Beim Arolsen-Archiv. Es ist ganz einfach.

Man meldet sich an bei der Webseite vom Arolsenarchiv https://everynamecounts.arolsen-archives.org/.

Man kann auswählen, welches Thema man bearbeiten will:

  • Emigration, Displaced Persons, Staatsarchiv Bremen
  • Konzentrationslager Dachau, KZ-Häftlinge, Schicksalsklärung, IPN (polnische staatliche Einrichtung: Archivierung und Verwaltung von Dokumenten über Vergehen im Zweiten Weltkrieg)
  • Flucht, Familie, Suche, Schutzorganisationen

Die alte Schrift gibt es in den polnischen Karteikarten, die anderen sind leichter zu entziffern. Die Anleitungen und Hilfedateien sind ausführlich und verständlich.

Über 100.000 Unterstützer:innen weltweit haben schon geholfen.

Warum machen die das?

  • Angehörige, die nach dem Schicksal ihrer Familie forschen, haben nur mit digitalisierten Daten eine Chance, etwas zu finden. Es haben sich schon Familien wiedergefunden, die in der ganzen Welt verstreut waren.
  • Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Hobbyforscher:innen nutzen das Archiv.
  • Und: Es ist ein lebendiges Denkmal gegen das Vergessen.

Manchmal wird mir schlecht beim Abschreiben. Aber irgendwie kann ich auch nicht aufhören. Es zieht einen rein. Man stellt sich Gesichter vor, Familien, Geschichten.

Warum mache ich das?

Dass ich diese Arbeit mache, hat vielleicht zu tun mit dem Onkel, der als Offizier im Osten eingesetzt war. Die haben Pervitin gekriegt vor ihren „Einsätzen“. Man möchte sich nicht vorstellen, was da los war.

Vielleicht hat es auch was zu tun mit dem Großonkel, von dem alle wussten, dass er strammer Nazi war, ein ehemaliger Lehrer. Einmal hat er seinem Spartakus-Großneffen im Streit ins Gesicht geschrien, dass er einen Vater von sechs Kindern „eigenhändig“ ins KZ gebracht hätte. Und dass er stolz darauf war. Auf offener Straße, am hellichten Tag. Das war in den 60´ern.

Vielleicht hat es auch was zu tun mit den judenverachtenden Äußerungen in den Briefen unseres Urgroßvaters.

Der eine Großvater hat seine Autorität als Arzt genutzt, um zu verhindern, dass ein frisch operierter Patient, ein Jude, abtransportiert wurde.

Der andere Großvater war Offizier in der „Abwehr“. Ohne seine – unter Todesstrafe verbotene – Warnung vor einem Luftangriff gäbe es mich, meine Geschwister, meine Kinder und Enkelkinder wahrscheinlich nicht. Von dem Haus, wo sie damals gewohnt haben, ist nichts übrig geblieben. Er wusste Alles.

Er hat erzählt, dass die Ordensschwestern in der Kinderpsychiatrie in meiner Heimatstadt ihm von den Ärzten aus Berlin erzählt hätten, nach deren „Behandlung“ die Kinder reihenweise gestorben seien. Er habe es nicht geglaubt damals.

Dass ich die KZ-Karteikarten abschreibe, hat vielleicht auch was mit der Doktorarbeit meines Vaters zu tun. Der Titel ist: „Leichenbefunde bei blutsverwandten Geisteskranken“.

Sein Doktorvater war ein Professor Panse. Ernst Klee schreibt im Personallexikon zum Dritten Reich über Professor Panse: „Dozent, Lehrauftrag Rassenhygiene, NSDAP, T-4-Gutachter.(..) Galvanischer Strom in hohen Dosierungen, Pansen genannt, gegen sogenannte Kriegsneurotiker (…) Freispruch LG Düsseldorf 1950 wegen Beteiligung Euthanasie“.

War mein Vater ein Nazi? Er hat immer erzählt, dass seine Schulklasse jubelnd „über Tische und Bänke gesprungen“ sei, weil ihr letztes Schuljahr verkürzt wurde. Man brauchte Soldaten. Und „Trau keinem über 30“: das habe doch jedem 17-Jährigen gefallen. Es sei die Enttäuschung seines Lebens gewesen, als er nach dem Krieg von den Lagern erfuhr.

Unser Vater hat keine Patienten ermordet und auch keine Menschenversuche gemacht. Aber wie war es möglich zu verdrängen, warum und wie seine 60 Anatomie-Objekte aus der Psychiatrie gestorben waren? Dass sie ermordet wurden?

Mein Vater hat ein Buch geschrieben über interessante Begegnungen in seinem Leben. In dem vielleicht berührendsten und warmherzigsten Kapitel schreibt er über drei schizophrene Brüder.

Wie kriegt man das zusammen?

Ich weiß nicht mehr, in welchem Bericht über die Ärzteprozesse es war, wo ich von den Menschenversuchen las, die Nazi-Ärzte an Psychiatrie-Patienten und Häftlingen durchgeführt haben. Ein Helfer war angeklagt, bei einem Kälteversuch assistiert zu haben. Die Begründung für die Kälteversuche war, für die deutschen Soldaten den effektivsten Kälteschutz zu finden, für den Russlandfeldzug.

Der Arzt hatte dem angeklagten Helfer befohlen, die Temperatur weiter abzusenken. Es war klar, dass der Patient sterben würde. Der Todeszeitpunkt und die Dauer des Überlebens wurden dann festgehalten. Der Helfer hat dem Arzt vertraut, es war sein Vorgesetzter, Autoritätsperson, ein studierter Fachmann. Der Helfer war abhängig, hatte vielleicht Familie. Er hat die Anweisung befolgt.

Hätte ich wahrscheinlich auch gemacht, damals, schüchtern und unsicher wie ich war mit zwanzig. Mir das eingestehen zu müssen war grausam.

Das alles ist nicht vorbei. Das ist immer noch da. Und das ist in jedem und jeder von uns angelegt. Deshalb ist es so wichtig, sich zu erinnern. Sich dem zu stellen, dass man selber vielleicht mitgemacht hätte. Wie nah das ist. Das an sich ran zu lassen. Und sich klar zu sein, dass so etwas jederzeit wieder passieren kann.

Und nichts kann man jemals wiedergutmachen.

Nun gab es damals und immer schon Menschen, die nicht mitgemacht haben. Die sich geweigert haben, die Befehle zu befolgen. Unter Einsatz ihres Lebens. Auch heute gibt es sie. In Russland, im Iran, überall. Wenn ich mich in den Helfer bei den Ärzteprozessen hineinversetze – was hätte ich denn gebraucht, um den Befehl meines Vorgesetzten verweigern zu können und den Hebel NICHT umzulegen?

Ich glaube, es ist Respekt, den ich gebraucht hätte.

Nicht der Respekt, den die „Respektspersonen“, die Autoritäten, die Mächtigen, die Reichen, die Alten, die Vorgesetzten, die Hochgestellten, die Angesehenen, die Priester, die Lehrer, die Familienväter selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, sondern der Respekt der Eltern vor ihrem Kind.

Der Respekt der Lehrer*innen vor ihren Schüler*innen. Der Respekt vor jedem Menschen. Der Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen.

Respekt vor Kindern? Wo gibt’s denn sowas?! Das war doch unerhört damals, in den 50´er- Jahren, absurd, undenkbar, lächerlich. Der alte Geist herrschte noch überall. Die alten Richter, Lehrer*innen und Priester auch.

In meiner Herkunftsfamilie gab es beides: Respekt, Höflichkeit, Liebe – aber auch Verachtung, Gehorsam und Angst.

Wir wollten es anders machen damals und haben die Autoritäten herausgefordert – auf äußerst respektlose Art. Manches war übertrieben und verbohrt, aber es war absolut nötig. War auch lustig, hat auch ein bisschen was verändert. Aber gerade jetzt, in Krisen-Zeiten, kriegt der alte Autoritätskult wieder Rückenwind.

Nun – der Wind of Change bläst gerade auch immer stärker.

Aber es passiert doch gerade so viel Grauenhaftes in der Welt – Israel, Gaza, Ukraine, Kurdistan. Lernen die Menschen denn nichts aus der Geschichte?

Die meisten glauben es nicht, ich habe es erst auch nicht geglaubt, aber: Bei allem Elend und allem Grauen, was Menschen einander antun und was sie nicht verhindern, leben wir doch in einer Welt, in der Menschen sich weniger Gewalt antun als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Das trifft sogar zu, wenn man beide Weltkriege und den Holocaust miteinbezieht. Die Gewalt hat im Laufe der Geschichte stetig abgenommen. Wir leben heute in der friedlichsten Epoche der Menschheit.

Und wieso glauben dann alle, dass alles immer schlimmer wird?

Das liegt daran,

  • dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, dass wir informiert werden über eine Schülerattacke in Wuppertal, aber nichts hören von den hunderttausend Schülern, die keine psychotischen Messerstecher sind.
  • Und das wiederum liegt daran, dass unsere uralten Instinkte auf Gefahren programmiert sind. Gefahr löst schnellere Reaktion aus als Langweiliges, „Normales“ und Angenehmes. Wenn wir Angst haben, reagieren wir instinktiv, unreflektiert, werden manipulierbar.
  • Dass wir denken, alles wird schlimmer, liegt auch daran, dass mehr Menschen als jemals zuvor mit am Tisch sitzen und mitreden – auch die, die noch nie was zu sagen hatten,
  • und es liegt auch daran, dass wir sensibler geworden sind. Frauen lassen sich nicht mehr alles gefallen. Kinder auch nicht. Wir wollen nicht, dass Tiere gequält werden und wir gehen nicht mehr sonntags mit unseren Kindern auf den Marktplatz zur öffentlichen Hinrichtung.

Es ist bewiesen: Wir haben eben doch was gelernt aus der Geschichte. Wir Menschen haben uns weiterentwickelt – und tun es noch.

Und der Respekt gegenüber unserer Großen Mutter Erde? Langsam merken wir, dass es uns selber an den Kragen geht, wenn wir sie weiter so respektlos behandeln. Es wird Zeit, dass auch sie mit am Tisch sitzt, die Tiere, die Pflanzen, die Flüsse und die Meere. Es fängt ja schon an. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Während ich die Karteikarten aus dem KZ Dachau abschreibe, höre ich in den Nachrichten, dass Juden angegriffen und auf der Straße bespuckt werden. in Deutschland. Weil sie Juden sind. Sie haben Angst, ihre Kinder unbegleitet zur Schule gehen zu lassen. Mitglieder einer Partei, die in unserem deutschen Parlament sitzt, finden die Idee gut, Deutsche, die nicht deutsch genug aussehen, zu deportieren.

Das ist kaum auszuhalten. Man will das auch gar nicht aushalten. Trotzdem – man muss ja irgendwie damit umgehen. Und da hilft es, was zu tun. Es hilft, wenn man einer ukrainischen Familie eine Unterkunft geben kann. Demonstrieren hilft. Und es hilft, beim Arolsen-Archiv immer mal wieder ein paar Karteikarten abzuschreiben, auch wenn einem beim Abschreiben schlecht wird.

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