Männlich? Weiblich?

Was ist männlich? Was ist weiblich? Und was hat das mit Männern und Frauen und Anderen zu tun? Was ist normal? Heißes Thema. Fettnäpfchen bis zum Horizont.

Ich frage mich, wieso sich alle so aufregen bei dem Thema. Wie kann das sein, dass man sich dermaßen zerstreitet über ein falsches Wort, eine falsche Frage? Dass man nicht mehr miteinander redet, in der Familie, unter Freunden, dass die beste Freundin nachts rausschmeißt. So viel Hass und Hetze wird geschleudert. Und es gibt so viel Unwissenheit.

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass das Thema männlich-weiblich gerade so viele bewegt und aufregt. Und ich bin überzeugt: es hat ganz viel mit dem Wandel zu tun, über den ich hier blogge. Das will ich näher untersuchen.

Plus gibt ab: männlich. Minus nimmt auf: weiblich. Es ist die Definition von „männlich“ und „weiblich“. Darauf hat man sich geeinigt. Das ist banal. Nehmen wäre dann also weiblich und Geben männlich.

Nun gibt´s aber Geben und Nehmen ja nicht nur beim Zeugen und Empfangen, bei Steckdosen und Batterien: Kaufen und Verkaufen ist auch Nehmen und Geben – ist Verkaufen deshalb „männlich“? Kaufen „weiblich“? Ist Bezahlen männlich? Kassieren weiblich? Ist Klauen weiblich? Schenken männlich? Austeilen ist männlich? Einstecken weiblich?

Beim Singen gibst du deine Töne hinaus – hat Singen deshalb eine männliche Qualität? Ist Zuhören, mit den Ohren aufnehmen „weiblich“?

Lesen: genauso, du nimmst auf – Ist Lesen deshalb „weiblich“? Beim Schreiben gibst du deine Ideen und Gedanken in die Welt: ist Schreiben deshalb eine männliche Angelegenheit? Es fängt an, verwickelt zu werden.

Also – bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wird es ja doch wohl klar sein, wer die männliche und wer die weibliche Rolle spielt – oder?

1. Die Liebe. Am Anfang steht immer die Anziehung. Das weibliche Wesen gibt ein Signal, meistens einen Duft (Sie gibt, Geben = männlich), das männliche Wesen nimmt es auf.

2. Empfängnis und Zeugung. Das Weibliche empfängt – das Männliche gibt – klare Rollenverteilung. Schwangerschaft

3. Die Schwangerschaft. Nahrung, Schutz, Wärme – das Weibliche gibt und gibt und gibt an die wachsende Frucht: Geben ist männlich.

4. Die Geburt. Gebären: das gewaltigste Abgeben deines Körpers. Ist Gebären was Männliches?

5. Stillen. Beim Stillen gibt die Mutter. Ist Stillen männlich? Saufen weiblich?

6. Die Kinder in die Welt hinausführen. Den Kindern alles beibringen und sie in die Welt entlassen ist auch ein Geben. Hat Lehren und Erziehen und In-die-Welt-hinaus-Begleiten eine männliche Qualität?

Wir sehen schon: Es ist nicht so einfach.

Und mit uns Menschen wird alles noch komplizierter. Was uns von den anderen Tieren unterscheidet, ist ja, dass wir die Wahl haben. Dass wir entscheiden können, was und wer und wie wir sind. Dass wir uns absprechen und einigen können auf das, was „normal“ ist. Das ist unsere Freiheit. Für die wir angeblich aus dem Paradies vertrieben worden sind. Freiheit ist anstrengend. Man kann sich nicht nur entscheiden – man muss auch. Viele sind die dauernde Absprecherei und Quasselei leid. Sie wollen Sicherheit und suchen sich Religionen, Autoritäten, Webseiten, Anführer, die ihnen sagen, was normal und richtig ist, ein für alle Mal. Werden es gerade mehr, die so denken? Oder kommt mir das nur so vor? Oder werden sie gerade nur immer lauter?

Wie ist denn die natürliche Rollenverteilung zwischen männlichen und weiblichen Wesen? Wie teilen Tiere und Pflanzen sich die Arbeit mit den Kindern? Wie leben sie zusammen? Wie lieben sie? Können wir uns an der „Natur“ orientieren?

Bei den Seepferdchen trägt der Vater die Kinder aus und beschützt sie. Die Gottesanbeterin frisst den Vater ihrer Kinder nach der Paarung auf. Die Schnecken befruchten sich gegenseitig und alle zeugen und legen Eier. Bei den Bienen machen die Frauen die ganze Arbeit, die Männer sorgen für gute Stimmung und fliegen mit der Königin zum Hochzeitsflug aus. Das Rotkehlchen-Weibchen trifft das Männchen nur zur Paarung, die Jungen versorgt sie alleine. Singen tun sie beide. Herr und Frau Kuckuck lassen ihre Kinder von Pflegeeltern aufziehen. In der Clownfischfamilie ist immer der größte Fisch ein Weibchen: sie ist der Boss. Die Männchen putzen, machen das Nest schön und passen auf die Eier auf. Wenn sie stirbt, wird ein Männchen zum Weibchen und stresst die anderen Männchen, so dass sie Männchen bleiben. Bei den Elefanten passen die Mütter, Tanten und Großmütter gemeinsam auf die Kinder auf. Die klügste und erfahrenste Großmutter führt die Herde an. Katzen paaren sich mit mehreren Katern – so haben sie einen schönen bunten Wurf. Für die Kinder sorgen sie alleine.

Es gibt auch lebenslange Treue, zwischen gemischten Paaren, zwischen gleichgeschlechtlichen, manchmal auch zu dritt. Manche versorgen die Kinder zu zweit, manche alleine, manche zu mehreren.

Einen für alle gibt´s auch: die Hirschkühe lassen die Böcke kämpfen und schauen, wer der Stärkste und Schlauste ist. Der wird dann der Vater ihrer Kinder und passt auf, wenn sie in Ruhe fressen und sich ausruhen wollen.

Schimpansen und Bonobos, unsere nächsten Verwandten, regeln das total unterschiedlich: bei den Schimpansen sichern Kämpfe und Aggressionsgehabe die Stellung des Oberschimpansen. Bonobos stärken den Zusammenhalt in ihrer Gruppe durch Sex und Kuscheln.

Und wir Menschen?

Ich hatte mal eine Diskussion darüber, ob „Hingabefähigkeit“ männlich oder weiblich ist. Frauen sollen ja hingabefähig sein. Aber wieso eigentlich?

Wenn das Geben das männliche Prinzip ist und Nehmen das weibliche, dann wäre Hingabefähigkeit doch eine männliche Qualität.

Das mit der weiblichen Hingabefähigkeit stimmt nur dann, wenn man davon ausgeht, dass Frauen sich geben, sich hergeben, wenn sie Sex haben. Es ist eine „Kultur“, in der Männer Frauen „erobern“, „knacken“, „flachlegen“. Eine Kultur, in der Frauen „vergeben“ sind, wenn sie in einer „festen Beziehung“ sind. Eine Kultur, in der der Mann immer will, die Frau eigentlich nicht. In der sie keine eigene Sexualität hat. Haben darf. In so einer „Kultur“ sind Frauen Eigentum. Sie sind keine Personen sondern Sachen. Sie werden verkauft, verheiratet, geschlagen, vergewaltigt und getötet. Auch hier, bei uns, in Europa, in Deutschland.

Ist noch nicht so sehr lange her, dass eine Frau die Erlaubnis ihres Mannes (ihres Besitzers) gebraucht hat, wenn sie ein Konto eröffnen oder arbeiten gehen wollte. Dass man zum Putzen, Spülen, Kochen, zum Bedienen und Dienen, zur Kinder- und Altenbetreuung weibliche Geschlechtsorgane braucht, glauben immer noch viele.

Regieren, Kämpfen, Zum-Mond-Fahren, Sachen erfinden, Brücken bauen, in Mathe gut sein kann man natürlich besser, wenn man männliche Geschlechtsorgane hat.

„Ist doch heutzutage nicht mehr so“? Von wegen! Frauen können ja angeblich heute alles werden – nun, sie erleben jeden Tag, dass ihnen weniger Raum zugestanden wird als Männern. Ohne nachzudenken, selbstverständlich, „normal“.

Sarah Thiele schreibt, wie sie täglich erlebt, dass „Männer und Frauen mit einem anderen Selbstverständnis durchs Leben gehen.“ Ihre Erfahrung, als sie sich zwei Wochen lang wie ein Mann benimmt: „Während mir die allermeisten Frauen Platz gemacht haben, bin ich mehrfach in Männer gelaufen, die nicht einmal Anstalten gemacht haben zur Seite zu gehen.“ Sie schreibt: „Lächeln, sich entschuldigen, körperlich möglichst wenig Raum einnehmen: All das sind Verhaltensweisen, die vielen Mädchen auch heute noch beigebracht werden.“ ( glamour.de, 12.7.2023) Thiele findet das nicht falsch, nur: warum nicht auch den Jungs?!

Wenn Mädchen beim Elfmeterschießen nicht treffen, heißt es: war ja klar! Wenn die Jungs nicht gut schießen, heißt es: kann passieren – schreibt Stella Spörle, die als einzige Frau in einem „gemischten“ Fußballteam spielt. (3.8.2023 in der ZEIT)

Immer noch gibt es Menschen, die glauben, Frauen seien „unrein“ und hätten die Sünde und das Elend in die Welt gebracht. Deshalb dürfen sie keine Priesterinnen und keine Hodschas werden, nicht allein aus dem Haus gehen, über ihr Leben, ihren Körper, ihren Ehepartner und ihre Kinder bestimmen, dürfen nicht Lesen und Schreiben lernen, keinem außerhalb der Familie die Hand geben und müssen sich in der Öffentlichkeit unsichtbar machen. Ihre Kinder alleine ernähren dürfen sie – von der Kommunion werden sie ausgeschlossen.

Das soll „normal“ sein?

Natürlich ist das nun ja wohl nicht. In der Natur gibt es alles. Bei Menschen auch (na gut, außer das mit den Schnecken und der Gottesanbeterin).

Außerdem: es gibt ja nicht nur die europäische Kultur: auch heute noch gibt es ganz andere Normalitäten als unsere – fast hätten wir sie ausgerottet mit unseren Missionaren. Und was wir heute „normal“ finden, ist auch erst normal seit ganz kurzer Zeit.

Margret Mead hat in Neuguinea drei sogenannte „primitive“ Gesellschaften untersucht und schreibt über die unterschiedlichen Eigenschaften, die sie Männern und Frauen zuschreiben. Die Arapesh waren mütterlich, zartfühlend, passiv, friedlich, hilfsbereit und verständnisvoll. Und zwar beide – Männer und Frauen. Bei den Mundugumor waren beide, Männer wie Frauen, rücksichtslos, aggressiv, kriegerisch und sexuell fordernd. Bei den Tschambuli waren die Frauen die herrschenden, sachlichen und lenkenden und arbeitenden – die Männer die weniger verantwortlichen, gefühlsmäßig abhängigen, mütterlichen, passiven, die ihre Zeit damit zubrachten, sich schön zu machen Das schrieb Margret Mead in „Sex and Temperament in Three Primitive Societies“. Das war 1935.

David Graeber und David Wengrow belegen in „Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit“, dass wir Menschen unser Zusammenleben und unsere Rollen immer schon abgesprochen, verändert und angepasst haben – seit zwei Millionen Jahren (Klett-Cotta 2022). Auch die Rollen von Männern und Frauen und Anderen. Manche hatten sogar im Winter eine andere Gesellschaftsordnung als im Sommer.

Während der Jagdsaison im Sommer hatten die Inuit einen männlichen Anführer und eine strenge, manchmal tyrannische Hierarchie, wachten eifersüchtig über ihr Eigentum und lebten nomadisch. Im Winter lebten sie in großen Gemeinschaftshäusern zusammen und teilten sich ihren Besitz und ihre Partner*innen.

Die Menschheit hat sich nicht geradlinig weiterentwickelt von „primitiv“ zu „hochentwickelt“, von nomadischen Jägerinnen und Sammlern zu sesshaftem Ackerbau, Zivilisation, Industrialisierung und „Hochkultur“, von Horden und Stämmen zu Dörfern und Städten, Nationen und Staaten. Es ging vor und zurück. Wir Menschen haben mal Neues ausprobiert, mal sind wir zum Alten zurückgekehrt. Wir haben immer wieder geschaut, was passt und was nicht, und haben immer wieder neu ausgehandelt, was „normal“ ist.

Genau das ist unsere Stärke. Nur deshalb haben wir überlebt.

Wir leben in einer Zeit, wo sich gerade alles wandelt, alles. Es ist vielleicht der größte Umbruch, den die Menschheit jemals erlebt hat. Wenn man in einer solchen Umbruchzeit alles so lassen will, wie es immer war, dann ist das das Unsicherste und Gefährlichste, was man machen kann. Dann bewahrt man nicht das, was sich bewährt hat, sondern man riskiert, alles zu verlieren.

Kulturen, die sich nicht angepasst haben, sind untergegangen. Immer.

Außerdem: „Wie es immer war“? Es war nicht immer so. Es war nicht immer so unfair. Menschen wollten auch immer schon, dass es gerecht zugeht.

Solange irgendwo auf der Welt Frauen und Andere noch so schäbig behandelt werden, werden Menschen auch die Erde so behandeln. Als eine Sache, die einem gehört, die man benutzt, verkauft, kaputtmacht und nach Gebrauch wegwirft. Und nicht, wie man seine Mutter behandelt, die uns unser Leben schenkt und uns ernährt.

Die Native Americans haben seit Tausenden von Jahren auf der Erde gelebt, ohne sie zu zerstören. Eins ihrer heiligsten Gesetze ist: Alles Leben wird vom Weiblichen geboren und vom Männlichen gezeugt.

Beides gehört zusammen wie Ein- und Ausatmen. Wenn wir geboren werden, atmen wir ein. Dann machen wir ungefähr 500 Millionen Atemzüge – ein, aus – und atmen aus.

Wir erleben gerade einen tiefen Wandel, was männliche und weibliche Normen angeht. Etwas Neues entsteht. Ein total unsicherer und verletzlicher Zustand. Ähnlich wie bei einer Geburt. Auch gefährlich. Viele haben Angst, regen sich wahnsinnig schnell auf und schlagen um sich. Aber viele sind auch ganz aufmerksam und wach und beschützen, fördern und gestalten das Neue mit, was da geboren werden will. Und gehen voraus.

Ich danke allen Menschen, die das unfaire Männer-und-Frauen-Theater nicht mehr mitmachen und verbeuge mich zutiefst vor ihnen.

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