Wer überwacht wird, ist niemals frei

Freiheit, Überwachungskapitalismus und ein alter Küchenherd

Im Kindergarten gab es einen Jungen, der war unglaublich frech. (So nannte man das damals.) Er hat mal einem anderen Jungen aufs Butterbrot gespuckt. Manchmal haben ihn die Schwestern (es waren wirklich Ordensschwestern) in der Pause am Stuhl festgebunden. Sonst wäre er, wenn er zur Strafe eigentlich drin bleiben sollte, einfach mit den anderen raus gelaufen. Gemeine Sachen machte er nicht, er hatte nur überhaupt keine Angst vor den Schwestern und vor Strafen.

Ich war hingerissen.

Heute gehts um Freiheit.

Die Coolsten in der Schule waren doch die, die sich nicht an die Regeln hielten. Die unsere (Nazi-) Lehrer vorführten und Scheiße bauten, die klauten und auf dem Schulklo kifften. Einmal kamen die Jungs im Sommer in Miniröcken in die Schule – unerhört in den 60´ern. Einer ließ mal eine Schildkröte in der Klasse rumlaufen, auf deren Panzer „MAO“stand.

Einer, der es auch cool und abenteuerlich findet, sich nicht an Regeln zu halten und selbst zu entscheiden, welche man befolgt und welche man überflüssig und dumm findet, ist Ulf Poschardt.

Dies ist der erste Satz in seinem Buch „Mündig“ (Klett-Cotta 2020):

Asozial? Unanständig? Neoliberal? Ja. Auch. Auf jeden Fall. Und das mit Lust. Poschardt möchte auch dazugehören, zu den Coolen, den Rebellen, die sich nicht anpassen. Und einige Linke sind brav über seine Stöckchen gesprungen. Viel Feind, viel Ehr.

Poschardt findet, dass es „viel falsches Wir“ gibt. Exklusion durch Identitätspolitik stört mich auch und seine These, Autonomie beweise sich gerade in einer eigenen Haltung und im Standing innerhalb der eigenen Meinungsblase, gerade auch im Widerspruch, unterschreibe ich sofort. Aber – ehrlich gesagt – toxische Herrschaftsformen, Produktionsformen und Systeme stören mich eigentlich mehr.

„Driften“ als Bild für Mündigkeit und einen gewagten Lebensstil – das muss man sich erstmal einfallen lassen. Damit kennt Poschardt sich aus, als Welt-Chefredakteur ist er auch verantwortlich für die PS Welt, ein Auto- und Lifestyle-Special des Axel-Springer-Verlags. Driften ist eine Technik im Rallyesport, gewagt durch Kurven zu schleudern – entgegen jeder Vernunft und Berechnung. Dass das aufregend ist und Spaß macht, kann ich mir schon vorstellen.

Der Moment, wenn die Idee aufblitzt in der Kunst, ist vielleicht entfernt damit verwandt. Kann ein Moment des reinen Glücks sein.

Poschardts originellen Beispiele, sein rasanter Stil – das liest sich gut. Wenn man nicht immer wieder stolpern würde.

Mit Poschardts seitenlanger Schwärmerei für den Freiheitskitzel von Formel-1-Rennen und Auto-Raserei kann ich leider nichts anfangen.Das hat für mich einen leichten Hautgout nach Lebensmüdigkeit. Stefan Reinecke schreibt darüber in der taz vom 28. 4. 2020:

Nicht mehr besoffen und aggressiv Vollgas geben zu dürfen, erscheint hier als Verwirklichung einer Orwell’schen Diktatur. Ein wenig Einsamkeitspathos und Massenverachtung haben schon immer zum liberalen Individualismus gehört. Bei Poschardt werden diese Posen hysterisch.“

Der freche Junge aus dem Kindergarten hat sich übrigens später totgefahren.

Eine von Poschardts Kernthesen würde ich ja gerne unterschreiben: „… das Wesen des Mündigwerdens: sich mit dem Fremden und Anderen auseinander zu setzen, um am Ende jeder Auseinandersetzung ein anderer und bewussterer Bürger, Mensch, Konsument, Christ, Naturschützer zu sein.“

Wie bitte? Können/sollen nur Männer mündig werden? Soll ich mich mit-gemeint fühlen? Das ist un-mündige Sprache, tut mir Leid.

Im Kapitel „Der mündige Mann“ schreibt Poschardt :

Das Patriarchat hat Männer durch Privilegiertheit entmündigt. Die hegelsche Herr-Knecht-Dialektik hat in Zeiten absoluter patriarchaler Machtfülle Männer ins Feist-Übergriffige entstellt. Der Feminismus als angemeldeter Herrschaftsanspruch der Frauen hat den Männern im Zweifel die Chance auf einen Neustart ermöglicht.“

Schön gesagt. Aber Filme, in denen die Frauen die „härteren“ Männer sind, als hoffnungsvolles Zeichen für sich auflösende toxische patriarchale Strukturen zu deuten? Das kommt mir doch ein bisschen schief vor.

Das Buch „Autonomie“ (S. Fischer 2015) von Michael Pauen und Harald Welzer hat einen anderen Ansatz. Der letzte Satz im Buch ist:

Demokratie bedarf der ständigen Übung in Autonomie.“

Es ist der Kernsatz des Buches. Autonomie wird hier nicht vor allem als ultimativer Kick, Lifestyle-Attribut und Profilierungsvorteil gesehen sondern als notwendige Bedingung für eine demokratische Gesellschaft.

Pauen und Welzer stützen ihre Thesen mit einer Begriffsklärung, einem Abriss der Geschichte der Autonomie und mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen.

„Mündig“ dagegen ist journalistisch und liest sich weg wie ein knuspriges Steak. Trotzdem: „Autonomie“ ist mir sehr viel sympatischer.

Unseld fragt sich im Nachwort zu „Mündig“, ob Poschardt (Zitat)

„… der intellektuelle Cowboy ist, der in die kaputte Stadt reitet, alle Schurken und Feiglinge erledigt und dann wieder allein und fidel pfeifend in die Abendsonne reitet“ oder ob „der Cowboy bleibt und an zentraler Stelle mit den Leuten die Stadt neu aufbaut.“

Pauen und Welzer bleiben auf jeden Fall und bauen die kaputte Stadt mit auf.

Einig sind sie sich mit Poschardt darüber, dass das Internet und die sozialen Medien, vor allem Big Data, Bedrohungen sind für unsere Autonomie und damit für die Demokratie. Beide Bücher warnen vor den Angriffen der neuen Technologien auf unsere Privatsphäre – in Demokratien ein hoher und geschützter Wert.

Bei einer Crypto-Party habe ich einen Crypto-Angel kennen gelernt: Jürgen Fricke aus Köln. Ich habe ihn interviewt. Die Angels engagieren sich ehrenamtlich für digitale Selbstbestimmung. Crypto-Parties sind eine internationale, selbstorganisierte Veranstaltungsreihe, kurz vor den Snowden-Leaks entstanden. Das ging rasend schnell um die ganze Welt.

Auf Crypto-Parties lernt man digitale Selbstverteidigungstechniken, mit denen man sich vor den übergriffigen Verletzungen der eigenen Privatsphäre im Netz schützen kann. Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von E-Mails, anonym/pseudonym Surfen, robustes Verschlüsseln eigener Daten zum Beispiel.

„Ein Mensch, der überwacht wird, ist niemals frei,“ sagt Jürgen Fricke. Jede*r kennt das: wenn ich weiß (oder denke), dass jemand mich anschaut, benehme ich mich anders, als wenn ich allein und unbeobachtet bin. Das kann dazu führen, dass ich mir nicht in der Nase bohre – aber auch, dass ich keine eigenen Gedanken mehr denken kann.

Und nicht nur die Beobachtung an sich macht unfrei, auch die gezielte Manipulation im Netz wird immer raffinierter und aggressiver. Die Basis ist das Sammeln riesiger Mengen persönlicher Daten. Es scheint sich zu lohnen.

Freiheit und Abhängigkeit. In meiner Küche steht ein alter Kohleherd. Also – ich brauche irgendwie das Gefühl, dass ich zur Not in den Wald gehen und Holz sammeln kann, damit ich im Winter wenigstens EINEN Raum im Haus heizen kann, wenn alles zusammenbricht. Wir sind so abhängig. Von Lieferketten, von der Weltwirtschaft, von Energiekonzernen.

Auch ein Stück Land gibt ein gutes Gefühl. Jemand aus Indien sagte mal,wenn du einen halben Hektar hast, dann kann dir ja nichts mehr passieren.

Sich selbst versorgen kann total schön sein und abenteuerlich, und Spaß machen, nachhaltig ist es auch. Ich hab überhaupt nichts dagegen, wenn jemand sich selbst versorgt.

Aber muss ich deshalb Klopapier horten? Muss ich mein ganzes Leben darauf ausrichten, dass in schlimmen Zeiten meine Familie /meine Gemeinschaft überlebt? Es gibt ja Leute, die das leben, auch in Deutschland, zunehmend auch in der rechten Ecke.

Kann ja wirklich passieren, dass schlimme Zeiten kommen, richtig schlimme, wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen. Ich hab auch überhaupt nichts gegen Vorräte. Mit leerem Magen geht die Menschlichkeit schnell flöten.

Aber wenn ich mir vorstelle, ich sitze mit meiner Familie in meiner Festung und versorge mich selbst – und in unserer Straße ist aber unser Haus das einzige, wo abends Licht brennt – das ist doch ein Albtraum!

Ich will, dass keiner ohne Strom sein muss, dass alle es warm haben im Winter, zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf, und dass die Kinder in Ruhe aufwachsen können.

Nicht nur in meiner Straße, nicht nur in meinem Land, nicht nur in Europa.

Gerade hat das Verfassungsgericht entschieden, dass „eine zu kurzsichtige und damit einseitige Verteilung von Freiheit und Reduktionslasten zulasten der Zukunft verhindert werden“ müssen und dass es um die „Sicherung grundgesetzgeschützter Freiheit über die Zeit“ und um die „verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ geht.

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